Klaus Ahlfänger
Speicherkarte
Supergau – Speicherkarte voll
Um mich herum herrschte absolute Stille, so dass das Unheil ankündigende „Pling“
meines Fotoapparates nur um so deutlicher zu hören war. Nun hatte ich zwar von
Menschen gehört, die große Zeiträume ohne Flüssigkeit und Nahrung überlebt hatten,
doch wollte ich diese Fähigkeit nicht ohne weiteres auf das Fehlen einer einsatzfähigen
Speicherkarte übertragen. Hier in den Bergen gab es vernünftigerweise kein
Fotofachgeschäft und den Gedanken, frustriert die Wanderung abzubrechen, verwarf
ich insofern, weil ich mich just in diesem Moment am Scheitelpunkt des 22 km langen
Rundwegs befand.
Um mich mental auf die Ausnahmesituation vorzubereiten, hockte ich zunächst auf
einem der zahllosen Felsbrocken und starrte mit freudloser Miene auf den weit unten
liegenden Gardasee. Plötzlich wurde mir bewusst, wie schön eine Landschaft sein
kann, wenn man sie nicht ausschließlich durch den engen Sucher einer Kamera betrachtet und nicht vom Ehrgeiz getrieben
wird, sie aus den absonderlichsten Perspektiven abzulichten. Anscheinend hatte ich es verlernt, mich auf Stimmungen
einzulassen und Eindrücke dauerhaft zu verinnerlichen. Sozusagen im Vorbeihuschen habe ich nahezu exzessiv auf den
Auslöser gedrückt, als könne die Qualität eines Urlaubs an der Menge der heimgebrachten Fotos gemessen werden. Gefühle,
die durch optische Reize oder bewegende Ereignisse entstehen, kann man nicht digitalisieren und bei Bedarf am Rechner
abrufen
Anders verhält es sich, wenn wir dem Gesehenen und Erlebtem ausreichend Zeit geben, sich in unseren körpereigenen
Speichern Hirn und Seele zu verfestigen. Hier können wir jederzeit Bilder aus der Vergangenheit wachrufen – einschließlich
der Nebenwirkungen. Um mangelnden Speicherplatz muss ich mir keine Sorgen zu machen, denn schließlich hatte ich nach
Anschaffung unseres ersten Navigationsgerätes große Hirn-Areale von unnützem Wissen befreit.
Dennoch werde ich auch künftig keinen Schritt ohne Fotoapparat vor die Tür machen, ihn aber nur in dringenden Notfällen
benutzen. Etwa dann, wenn mir auf meinen Wanderungen Dieter Bohlen begegnen sollte. In diesem Fall würde eine
nüchterne, emotionsfreie Computer-Speicherung völlig ausreichend sein.
© Klaus Ahlfänger