Glossenschmiede
Klaus Ahlfänger
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Alzheimer
Kein Bus wird kommen Beim Stöbern im Internet stieß ich rein zufällig auf den Begriff Schein-Bushaltestelle und vermutete zunächst, dass es sich hierbei um die Wortschöpfung eines frustrierten Leserbriefschreibers handele, der wiederholt vergeblich auf das Eintreffen eines im Fahrplan aufgeführten Linienbusses gewartet hatte. Als ich noch dachte, irgendwer hat immer etwas zu meckern, erfuhr ich beim Weiterklicken, welche Tragik sich hinter diesem Haltestellen-Typ verbirgt. Schein- bzw. Phantom-Haltestellen werden neuerdings vermehrt in Außenbereichen von Kliniken und Heimen aufgestellt, die sich schwerpunktmäßig auf die Pflege bzw. Verwahrung von Demenz-Kranken spezialisiert haben. Nun ist diesen vorwiegend älteren Patienten zu eigen, dass sie häufig von dem Wunsch getrieben werden, an die vertrauten Stätten zurückzukehren, die ihnen einst Sicherheit und Geborgenheit geboten hatten. Mal steht ein Besuch bei der längst verstorbenen Schwester an, dann wieder gaukelt das Gehirn vor, man müsse schnell „nach Hause“, weil Vorbereitungen für eine Familienfeier zu treffen wären. Eben noch die Handtasche unter den Arm geklemmt – dann geht’s ab nach draußen, oftmals nur mit Morgenmantel und Pantoffeln bekleidet. Orientierungslos geistern die Kranken manchmal stundenlang durch die Gegend, um sich letztendlich an einer x-beliebigen Bushaltestelle in die Gruppe der Wartenden einzureihen. Schließlich will man ja nach „Nirgendwo“ fahren. Das „um sich besorgte“ Klinikpersonal muss dann nach dem eigentlich seiner Obhut anvertrauten Patienten suchen - bis es endlich im Polizeibericht despektierlich heißt: „Verwirrte Person wurde in der Innenstadt aufgegriffen“ „Gut“, sagte sich ein findiger Klinik-Mitarbeiter, „wenn die „ausgebüxten“ Patienten geradezu reflexartig Haltestellen als Startpunkt für eine Zeitreise wählen, dann können wir doch gleich eine im Maßstab 1 : 1 auf unserem Gelände hinstellen.“ Das Prinzip dieser Schein-Haltestellen scheint zu funktionieren. Die Demenzkranken verlassen das Gebäude, sehen die mit einem fiktiven Fahrplan ausgestattete Attrappe , setzen sich dort nieder und warten auf einen Bus, der niemals kommen wird. Irgendwann vergisst der Patient den Grund, warum er überhaupt das Heim verlassen hatte und kehrt dann auf sein Zimmer zurück. Wenn ich dieses Thema im Freundeskreis anschneide, sind die Redaktionen sehr unterschiedlich. „Ist doch praktisch, so eine Haltestelle, man muss auch das Personal verstehen, dem die zeitraubende Suche hierdurch abgenommen wird.“ Andere wiederum sind entsetzt, wie würdelos mit Kranken umgegangen wird, indem man sie nicht mehr ernst nimmt und sie in ihrer irrealen Wahrnehmung bestärkt. Ich irre mit meiner Meinung zwischen Pragmatismus und lieblosen Umgang mit älteren Menschen umher. Und ich fürchte, dass ich künftig beim Warten an der Bushaltestelle stets einen prüfenden Blick auf meine Fußbekleidung werfen werde. Denn – man weiß ja nie?! Vielleicht bin ich ja gerade auf der Flucht aus der „Wie-geht-es-uns-denn-heute-Welt? © Klaus Ahlfänger
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