Klaus Ahlfänger
Zweierlei
Zweierlei Maß
Morgens um 11 Uhr im Foyer eines Einkaufszentrums. Der Alkohol, den man hier Prosecco oder Champagner nennt,
fließt bereits in Strömen. Die hohen Stehtische sind dicht umlagert von elegant gekleideten Frauen und Männern,
denen es nur schwerlich gelingt, ihr „Uns-geht-es-gut-Gehabe" unter Kontrolle zu halten. Aufgesetzte Fröhlichkeit und
lautes Stimmengewirr sorgen dafür, dass ich mich mit Wortfetzen begnügen muss. Porsche, Sylt und Sushi sowie der
Schwiegersohn, der seine eigene Praxis eröffnet hat, gehören wohl zu den Standardthemen.
Fast fluchtartig verlasse ich diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten und bahne mir in der Fußgängerzone einen Weg durch die
Menschenmenge. Hier habe ich plötzlich sämtliche Leute lieb, und es stört mich auch nicht großartig, wenn mir alle
zehn Meter irgendeine aufgeregte Mutter den Namen ihres weglaufenden Kindes in die Ohren brüllt. Hemd und eine
vermeintlich dazu passende Krawatte sind schnell gekauft und es bleibt mir genügend Zeit, noch einmal bei Schick und
Mick im Einkaufstempel vorbeizuschauen.
Dort ist die Schar der Frühtrinker unverändert groß, doch es ist lauter geworden. Ein Gemisch aus Arroganz und
Tabakrauch wabert im Raum und es wird über Grappa- und Rotweinsorten diskutiert, wobei man es nicht bei der
Theorie belässt. Natürlich hinterlassen auch die edelsten Getränke ihre Wirkung, so dass die anfängliche dezente
Angeberei nun in peinliche Prahlerei ausartet.
Ich muss pünktlich zum Mittagessen zu Hause sein und wähle einen kleinen Park als Abkürzung zu meinem Auto. Auf
einer Bank sitzen drei Männer in zerschlissener Kleidung und trinken Bier aus Dosen, auch macht eine Schnapsflasche
die Runde. Ich stelle mir vor, wie einer dieser Prosecco-Experten im Vorbeigehen angewidert die Frage stellen könnte:
„Wie kann man zu dieser Tageszeit schon Alkohol trinken?"
© Klaus Ahlfänger